Clara Ragaz -Nadig von Brigitte Schuchard in Frauen.Freiheit.Frieden ISBN 978-3-86386-841-3
(30. März 1874 — 7. Oktober 1957)
Clara Nadig wurde am 30. März 1874 in Chur/Schweiz in eine gut bürgerliche Familie geboren und verlebte wohl mit drei Schwestern eine unbeschwerte Kindheit und Jugend mit der üblichen Ausbildung für die „höheren Töchter“ dieser Zeit. Sie absolvierte in Chur das Lehrerinnenseminar, wo sie als „die beste Denkerin der Klasse“[1] galt. Sie konnte ihre Bildung erweitern durch einen mehrjährigen Aufenthalt im englischen und französischen Sprachgebiet. Zurückgekehrt nach Chur betätigte sie sich neben ihren familiär-gesellschaftlichen Verpflichtungen im sozialen Bereich: Sie unterrichtete an einer Sonntagsschule und engagierte sich in der Missionierung. Dort lernte sie 1893 den geachteten Stadtpfarrer Leonhard Ragaz kennen, den sie nach langem Zweifeln 1901 heiratete. Sie wurde seine engagierte Lebensgefährtin und Mitkämpferin des revolutionären, religiösen Sozialisten. Als Pfarrfrau lernte sie alle gesellschaftlichen Schichten kennen, auch die Arbeiterfrauen, denen sie zeitweise selbst Nähunterricht erteilte.
Seit 1902 lebte die Familie in der großen Kirchgemeinde des Basler Münsters. Clara beteiligte sich an der Gründung des Schweizer Bundes abstinenter Frauen, leitete das Sekretariat der Union für Frauenbestrebungen und den auf Wohltätigkeit ausgerichteten, bürgerlichen Frauenverein der Gemeinde. In Basel kamen ihre beiden Kinder Jakob und Christine zur Welt, und offensichtlich konnte sie ihr soziales Engagement als Pfarrfrau mit einem großen Haushalt gut meistern.
Als Leonhard Ragaz 1908 zum Professor für systematische und praktische Theologie an die Universität Zürich berufen wurde, begann für Clara ein neuer Lebensabschnitt: sie wurde erst Mitglied, dann Sekretärin im Zentralvorstand der Sozialen Käuferliga/SKL, die vor allem die soziale Lage der Arbeiterinnen und Angestellten verbessern sollte durch solidarischen, verantwortungsvollen Konsum der Käufer_innen. Gegründet wurde diese Soziale Käuferliga — eine Idee aus Amerika — 1906 von der sozialkritischen Schriftstellerin Emma Pieczynska-Reichenbach[2], die für die 20 Jahre jüngere Clara zum Vorbild wurde beim Kampf gegen den Militarismus und bei der Erziehung zum Frieden. Beide traten für das Stimm- und Wahlrecht der Frauen ein, forderten unter enormem Einsatz für die Arbeiterinnen Mindestlöhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen, vor allem auch für die im Elend lebenden Heimarbeiterinnen — tatsächlich auch mit einigem Erfolg.
Clara Ragaz trat 1913 in die Sozialdemokratische Partei/SP ein, arbeitete besonders aktiv in der SP-Frauenbewegung mit, in der Hoffnung, durch deren Einfluss menschenwürdigere Arbeitsbedingungen für die ausgebeutete Bevölkerungsschicht zu erreichen.
Die Enttäuschung und Erschütterung waren groß, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und sowohl die SP wie ein großer Teil der Frauenbewegung dem Nationalismus und Militarismus zuneigte. Sie verstärkte ihren Kampf für den Frieden in der Öffentlichkeit, mahnte im Verband für Frauenstimmrecht zu Selbstständigkeit und Unabhängigkeit vom Denken der Männer. Erst 1935, als die Schweizer SP die militärische Landesverteidigung befürwortete, traten Clara und Leonhard Ragaz aus der Partei aus, standen aber weiterhin zu den sozialistischen Idealen.
Sie selbst nahm nicht am Ersten Internationalen Frauen-Friedens-Kongress 1915 in Den Haag teil — ihr Mann Leonhard wollte nicht, dass sie durch deutsches Kriegsgebiet führe. Sie gründete aber noch im gleichen Jahr zusammen mit der bekannten Frauenrechtlerin Gertrud Woker, Chemieprofessorin in Bern, und anderen gleichgesinnten Frauen die Schweizer Gruppe Komitee für einen dauernden Frieden, dessen Präsidentin sie die nächsten drei Jahrzehnte, bis 1946, blieb. Seit 1915 war das soziale und politische Engagement von Clara Ragaz auf die internationale Ebene gerichtet. Den zweiten Internationalen Kongress in Zürich 1919 organisierten dann fast alleine die beiden Frauen Gertrud Woker und Clara Ragaz, die auf diesem Kongress auch in den internationalen Vorstand gewählt wurde.
Auf Vorschlag der Deutschen Lida Gustava Heymann wurde in Zürich beschlossen, das Komitee für einen dauernden Frieden umzubenennen in Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit.
Besonders schwierig und beschämend war für Clara Ragaz als Schweizerin und SP-Mitglied, dass ihr Einsatz und Appell für die politische Gleichberechtigung und das Stimmrecht der Frau durch die Abstimmung in den Kantonen Zürich und Basel-Stadt 1920 nicht erfolgreich war.
Anfang der 1920er Jahre gab Leonhard Ragaz seine Professur an der Universität auf; die Familie zog ins Züricher Arbeiterviertel; sie eröffneten „im Gartenhof“ eine Art Volkshochschule Arbeit und Bildung, wo auch regelmäßig Frauen- und Mütterabende für alle Gesellschaftsschichten stattfanden. Auch im Gartenhof wurde die Schweizerische Zentralstelle für Friedensarbeit/SZF gegründet.
[1] Helen Kremos, Clara Ragaz-Nadig — ein Lebensrückblick, in Neue Wege. S.280
[2] Sie (1854-1924) stammte aus dem aristokratischen, polnischen Milieu der Großgrundbesitzer; nach ihrer Scheidung widmete sie sich intensiv durch Vorträge und Bücher der Erziehung zu Gerechtigkeit und Frieden.
Im Dezember 1921 übergab die Schweizer Liga-Gruppe einen Protest an die Bundesversammlung gegen die Erhöhung des Militärbudget, der vom Ständerat und v. a. der Presse hämisch abgelehnt wurde. Mit der SZF forderte die Schweizer Gruppe auch einen Zivildienst für diejenigen, die aus Gewissensgründen den Militärdienst verweigern wollten. Dafür konnten 1923 40 000 Unterschriften dem Nationalrat übergeben werden.
Als auf dem sechsten Internationalen Kongress der IFFF im August 1929 in Prag Jane Addams als allein verantwortliche internationale Präsidentin zurücktrat, wurde beschlossen, in Zukunft drei gleichberechtigte Vizepräsidentinnen zu wählen. In Prag waren das Clara Ragaz, die Amerikanerin Emily Greene Balch und die Deutsche Gertrud Bär.
Mit einer Unterschriftensammlung forderte die IFFF die Weltabrüstungskonferenz 1932 in Genf auf, konkrete Beschlüsse für Frieden und internationale Abrüstung zu fassen. Die Schweizer Sektion erzielte dank des unermüdlichen Einsatzes von Clara Ragaz mit ihren Mitstreiterinnen das prozentual beste Ergebnis mit 311 000 Unterschriften. Die Schweizer Presse reagierte darauf mit einer Verleumdungskampagne und dem Verdacht, dass die Liga als Agentin für Moskau arbeite.
Mit der Spezialistin Gertrud Woker versuchte die Schweizer Gruppe die Bevölkerung zu informieren und aufzuklären: seit den frühen 1930er Jahren über die modernen Chemiewaffen und die verlogenen „Schutzmassnahmen“, 1933 mit einer Wanderausstellung über einen unvorstellbaren Gift- und Bakterienkrieg und 1936 mit der Schrift „Luftschutz. Ein Wort der Klärung“.
Im Völkerbund kämpften Clara Ragaz und die IFFF dafür, dass die faschistischen Diktaturen — Mussolini, Franco und Hitler — mit wirtschaftlichen Sanktionen und einem Waffenembargo geschwächt würden — aber erfolglos.
Als aus Deutschland immer mehr Flüchtlinge in die Schweiz strömten, richtete sie im Gartenhof eine Auskunftsstelle für Flüchtlinge ein; gemeinsam mit ihrer Tochter Christine, mehreren Ligafrauen und anderen Helfern betreute sie die Emigrant_innen. In all den Jahren und bei allen Unternehmungen in Bezug auf die Ziele der IFFF konnte sich Clara Ragaz der Unterstützung durch ihren Mann sicher sein. Beide setzten sich für das Asylrecht in der Schweiz ein und protestierten gegen die besondere Benachteiligung von sogenannten „Nichtariern“.
Nach der letzten Exekutivsitzung der IFFF im April 1939 in Paris musste Clara Ragaz die alleinige Verantwortung für das Genfer Büro übernehmen. Sie redigierte im Februar 1940 die letzte Ausgabe der IFFF-Monatszeitung Pax International, die danach von der schweizerischen Pressezensur verboten wurde. Gertrud Bär, seit 1933 in der Schweiz lebend und als Pazifistin und Jüdin doppelt gefährdet, emigrierte in die USA und leitete das neu eingerichtete Büro in New York. Mühsam nur konnten Clara Ragaz und Gertrud Bär während der Kriegsjahre durch Briefe die Verbindung zu den noch existierenden Sektionen halten.
Bei der ersten UNO-Konferenz nach dem Krieg 1945, zugleich dem 30. Geburtstag der Liga, wiesen die drei Vizepräsidentinnen in einer Botschaft an den Vorsitzenden der UNO auf die besondere Verbundenheit der Liga mit dem Völkerbund hin. Im August 1946 konnte der erste internationale IFFF-Kongress nach dem Krieg in Luxemburg stattfinden. Clara Ragaz hatte — trotz des Todes ihres Mannes im Dezember 1945 — die Organisation von der Schweiz aus übernommen und hielt auch die Eröffnungsansprache. Sie hat auch auf diesem schwierigen Kongress, auf dem sogar über ein Ende der Liga diskutiert wurde, die internationale Liga zusammengehalten. Sie legte auf diesem Kongress alle ihre Ämter in der IFFF nieder, um die Verantwortung der jüngeren Generation zu überlassen. Jedoch hat sie bis zu ihrem Tod am 7. Oktober 1957 — umsorgt von Tochter und Sohn — an der Liga-Arbeit Anteil genommen.
Helen Kremos, Klara Ragaz-Nadig — ein Lebensrückblick. in Neue Wege, Zürich 1997
Heymann, S. 245, 263, 341
Christiane Henke, Anita Augspurg. rororo-Monographie, S.126
(Abb. Henke, S. 131)
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