Margarethe Lenore Selenka von Brigitte Schuchard in Frauen.Freiheit.Frieden ISBN 978-3-86386-841-3
(7. Oktober 1860 — 16. Dezember 1923)

Die Anthropologin und Paläontologin Margarethe Lenore Selenka, heute nahezu völlig vergessen, ist eine bedeutende Frau der deutschen Zeitgeschichte und eine der bemerkenswertesten der Frauenrechts- und Friedensbewegung.

Sie wurde in Hamburg als Margarethe Lenore Heinemann geboren und war in zweiter Ehe mit dem 18 Jahre älteren Zoologen Emil Selenka, Professor in Erlangen, verheiratet. Mit ihm zog sie 1895 nach München, wo sie sich als eine der ersten Gasthörerinnen an der Universität eingeschrieben hat. Mit ihrem Mann unternahm sie viele Forschungsreisen und Expeditionen zu den Malaiischen Inseln, nach Borneo, Indien, China, Japan und Java; gemeinsam veröf­fentlichten sie 1896 einen Bericht: „Sonnige Welten“. Während dieser Reisen veröffentlichte sie auch eigene ethnologische Forschungsergebnisse. Ihre Beobachtungen zur Stellung der Frau beeinflussten ihren Blick als „Frauenrechtlerin“. Als Aktivistin hatte sie schnell gelernt, dass von männlicher „Ritterlichkeit“ nichts mehr zu spüren war, sobald Frauen mitbestimmen wollten.

Seit 1898, als der deutsche Reichstag das Flottengesetz verabschiedet hatte, das den zügigen Ausbau der Kriegsflotte vorsah, gehörte sie der Frauen-Friedensbewegung an. Die Tätigkeit der Deutschen Friedensgesellschaft/DFG in München wurde maßgeblich von ihr begonnen und getragen. 1898/1899 war die vom russischen Zaren Nikolaus initiierte Internationale Friedenskonferenz Anlass für Selenka, die erste internationale Frauen-Friedens-Aktion zu starten: Weltweit und gleichzeitig sollten die Frauen öffentlich gegen den Krieg als Mittel der Politik protestieren. Mit großem organisatorischen Geschick — sie gründete dafür das Münchner Komitee für Kundgebungen zur Friedenskonferenz — gelang ihr innerhalb von nur sieben Wochen mit den damaligen Kommunikationsmitteln, dass sich am 15. Mai 1899 an 565 Orten in 18 Ländern auf drei Kontinenten Tausende von Frauen versammelten und Millionen Unterschriften und Telegramme für die Konferenz schickten, die Margarethe L. Selenka und Bertha von Suttner am 18. Mai dem Präsidenten der Konferenz übergeben konnten u. a. mit den Worten: „Frauen- und Friedensfragen, beide sind in ihrem innersten Wesen ein Kampf für die Gewalt des Rechts, gegen das Recht der Gewalt.“ Als Mitglied der DFG war sie ein wichtiges Bindeglied zwischen der Frauenrechtsbewegung und der Gruppe um den Münchner Friedensaktivisten und bayerischen Landtagsabgeordenten Ludwig Quidde.

Aber selbst der Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft und einer der führenden deutschen Pazifisten, Alfred Hermann Fried, nahm die Bemühungen der Frauen nicht wirklich ernst: In seinem Buch über die Haager Friedenskonferenz erwähnte er die Frauen-Friedens-Kundgebungen mit keinem Wort, obwohl er Bertha von Suttner und Margarethe L. Selenka persönlich gut kannte!

Noch Ende 1899 erhielt die Friedens­euphorie einen starken Dämpfer. In Süd­afrika setzte die britische Regierung ihre Armee gegen die Buren ein. Der Krieg wurde mit großer Brutalität gegen die Zivilbevölkerung geführt; es wurden Konzentrationslager vor allem für Frauen und Kinder gebaut. Innerhalb kurzer Zeit starben 20 000 Menschen. Ein weltweiter Protest wurde vor allem von Frauenorganisationen getragen. Margarethe L. Selenka wandelte ihr Münchner Komitee zur Friedenskonferenz um in die Deutsche Zentrale für Bestrebungen zur Beendigung des Burenkrieges. Trotz Drohungen und Verbote durch staatliche Stellen und die Polizei sammelte sie Spenden, verteilte Aufrufe, organisierte Protestveranstaltungen und Unterschriftsaktionen — vor allem gegen den systematischen Mord an Frauen und Kindern. Im Dezember 1901 z. B. organisierte sie in München zwei große Protestveranstaltungen gegen die britische Kriegführung im Burenkrieg: eine Kundgebung mit 7000 Menschen im Münchner Kindl-Keller und eine Frauen-Aktion im Deutschen Theater. Helene Stöcker, die ebenfalls zum radikalen Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung zählte, hielt bei dieser Frauendemonstration gegen den Burenkrieg ihre erste öffentliche Rede. Selenkas Freundschaft mit Helene Stöcker wurde allerdings seit 1904 zeitweise getrübt durch die Querelen von Augspurg und Heymann mit Helene Stöcker.

Nach dem Tod ihres Mannes 1902 widmete sie sich verstärkt ihren wissenschaftlichen Arbeiten als Anthropologin und Paläontologin; von 1906 bis 1908 leitete sie eine Ausgrabungsaktion auf der Insel Java. Auf Teneriffa war sie Mitgründerin einer Forschungsstation. Ihr anerkannter Ruf als Forscherin zeigte sich auch in der Unterstützung durch die Königlich-Bayerische Akademie der Wissenschaften.

Anita Augspurg und Lida G. Heymann, mit denen sie seit ihrem Zuzug nach München gut befreundet war, unterstützten sie bei der großen Frauen-Friedensaktion 1899. Sie war auch Mitglied des Münchner Stimmrechtsvereins und des Frauenstimmrechts-Bundes/DVF, des 1899 gegründeten radikalen Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine/VFF, des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform. Den VFF repräsentierte sie als Delegierte bei der internationalen Friedenskonferenz 1904 in Boston.

Ihr Engagement für Frauenrechte und Frieden setzte Margarethe L. Selenka auch während des Ersten Weltkrieges fort. Mit Anita Augspurg und Lida G. Heymann nahm sie als eine der 28 deutschen Frauen unter schwierigsten Bedingungen an der ersten Internationalen Frauen-Friedens-Konferenz im April 1915 in Den Haag teil, um für ein sofortiges Ende des Krieges zu demonstrieren; sie war von Anfang an Mitglied der IFFF. Wieder in München zurück, war sie wie alle Kriegsgegnerinnen den Repressalien des Kriegsministeriums ausgesetzt, worunter nicht nur ihre politische, sondern auch ihre wissenschaftliche Arbeit zu leiden hatte. Denn durch Passentzug und Reiseverbot, durch Begrenzung ihrer Auslandskontakte und Zensur ihrer Post war die von ihr geleitete Forschung auf Teneriffa stark beeinträchtigt. Trotz aller Schikanen gab sie ihre pazifistische Einstellung und den Gedanken an Völkerverständigung nicht auf. Sie arbeitete v. a. mit Constanze Hallgarten in der Münchner Gruppe der IFFF.

Margarethe Lenore Selenka starb nach längerer Krankheit am 16. Dezember 1923 in München