Lida Gustava Heymann

von Brigitte Schuchard in Frauen.Freiheit.Frieden ISBN 978-3-86386-841-3
(15. März 1868 — 31. Juli 1943)

Lida Gustava Heymann stand während des Ersten Weltkrieges mit Anita Augspurg an der Spitze der deutschen Frauen-Friedens-Bewegung. Sie war bereits seit 1896 — nach dem Tod ihres Vaters — politisch und sozial aktiv.

Lida wuchs in einer reichen Kaufmannsfamilie in Hamburg mit materiellem Luxus, aber ohne Freunde und Freundinnen auf, unter ständiger Aufsicht und Kontrolle von Eltern, Gouvernanten und französischen „Bonnen“, wurde umsorgt von Dienstboten, durfte keinen Schritt allein machen, nicht toben oder Abenteuer erleben. Sie und ihre vier Schwestern durften selten das Haus verlassen und besuchten keine öffentliche Schule, weil der Vater gegen Impfungen war, an den Grundschulen aber nur geimpfte Kinder zugelassen wurden. Den Lehrplan für die Privatlehrer entwarf der Vater. Lida galt als „schwieriges“ Kind, das gegen diese eingeschränkte Umwelt früh opponierte.

Der ständigen Gängelei des Elternhauses entkam sie mit sechzehn, als sie für eineinhalb Jahre in einem internationalen Pensionat in Dresden untergebracht war. Hier traf sie mit Mädchen aus England, Amerika, Kanada und Australien zusammen. Und hier erlebte sie Theater, Oper und Galerien. Sie begann zu malen und zu lesen und begeisterte sich für ihre Selbstständigkeit.

Wieder zu Hause, weigerte sie sich, wie ihre Schwestern auf Gesellschaften und Bälle zu gehen: „Eine solche Gesellschaft ist ja ekelhaft, der reine Heiratsmarkt, und die Unterhaltungen der Männer zu albern und dumm. Zu einem solchen Blödsinn gebe ich meine Zeit nicht her.“ Sie las sehr viel, klassische und moderne Literatur, aber auch Politisches. Sie unterrichtete Kinder in einer Armenschule, sang mit den Kindern, spielte Klavier und las ihnen vor, um Musik und Literatur in deren Leben zu bringen. Sie beriet die Mütter der Kinder und unterstützte die Mädchen und Mütter. Als unverheiratete und einzige Tochter verbrachte sie noch einmal elf Jahre in ihrem Elternhaus, zwar in enger Bindung zum freigeistigen Vater, aber in stetem Widerspruch zu ihrer Umgebung, den Vorurteilen und Konventionen.

Der Vater brachte ihr kaufmännisches Wissen bei und machte Lida zu seiner Geschäftspartnerin. Gemeinsam mit ihm und einer Sekretärin verwalteten sie Immobilien und Papiere im Wert von 6 Millionen Reichsmark. Als ihr Vater 1896 gestorben war, wollte das Hamburger Nachlassgericht sein Testament nicht anerkennen, in dem er seine Tochter Lida zusammen mit zwei Partnern zur Nachlassverwalterin eingesetzt und ihr eine großzügige Leibrente vermacht hatte: Denn eine Frau als Nachlassverwalterin war rechtlich nicht vorgesehen! Heymann aber erkämpfte sich ihr Recht mit dem Nachweis, dass im 13. Jahrhundert (!) schon einmal eine Frau in Hamburg eine solche Aufgabe übernommen hatte. Sie bekam Recht und erlangte damit ihre finanzielle Unabhängigkeit, die Voraussetzung für ihr freies Leben.

In der Hamburger Paulstraße, der heutigen Europapassage, kaufte sie ein Haus und richtete es für soziale Projekte ein, die sie ebenfalls finanzierte: einen Mittagstisch für Arbeiterinnen und deren Kinder, einen Hort, Bademöglichkeit, eine Bibliothek, ein Nähzimmer. Aus der hier tätigen Beratungsstelle mit Büros verschiedener Frauenvereine entwickelte sich das erste Frauenberatungs- und Bildungszentrum Deutschlands. Durch ihr Engagement und durch die Vormundschaft für eine sechzehnjährige Prostituierte bekam sie eine Vorstellung von der Unterdrückung und Ausbeutung vieler Mädchen und Frauen. Sie trat vehement für die sexuelle Aufklärung und gegen die staatliche Reglementierung der Prostitution ein. Abends veranstaltete Heymann in ihrem Zentrum Lesungen, Konzerte und Vorträge.

Seit 1896 gehörte Heymann zum Allgemeinen Deutschen Frauenverein, der sich vor allem für bessere Bildung von Mädchen und Frauen einsetzte. 1899 eröffnete sie in der Paulstraße auch eine private Handelsschule und 1901 ein Reformgymnasium für Mädchen und Jungen und propagierte daneben eine Kleiderreform gegen Krinoline und Korsett.

Seit der Jahrhundertwende arbeitete sie in enger Freundschaft mit Anita Augspurg, die sie 1896 auf einem Frauenkongress in Berlin kennengelernt hatte, in verschiedenen radikalen Frauenbewegungen zusammen. Im Hamburger Frauenzentrum waren Heymann und Augspurg 1902 Mitgründerinnen der ersten deutschen Frauenstimmrechtsbewegung.

Wegen Ihrer Überzeugung, dass Veränderungen nur durch wirtschaftliche und politische Umgestaltungen zu erreichen sind und ihr für diese Arbeit die Ausbildung fehlte, überließ sie die sozialen Arbeiten in Hamburg ihren Mitarbeiterinnen und studierte Sozialwissenschaften an den Universitäten in Berlin und München.

1907/1908 zog sie mit ihrer Lebenspartnerin Anita Augspurg in den Süden Deutschlands; sie lebten abwechselnd in einer Wohnung im Gartenhaus der Kaulbachstraße 12 in München und auf dem Siglhof im Isartal.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, arbeiteten beide an führender Stelle mit bei der Vorbereitung und Durchführung der ersten Internationalen Frauen- Friedens-Konferenz 1915 in Den Haag und setzten danach die politische Friedensarbeit im neu gegründeten Internationalen Frauenausschuss für dauernden Frieden fort. Lida G. Heymann wurde deshalb 1917 wegen „pazifistischer Umtriebe“ aus Bayern ausgewiesen, konnte aber bis zum Kriegsende in München untertauchen. Nach dem Kriegsende organisierten Heymann und Augspurg mit anderen Pazifistinnen auch die zweite internationale Frauen-Friedenskonferenz in Zürich, auf der die Frauenausschüsse in Internationale Liga für Frieden und Freiheit/IFFF umbenannt wurden.

1919 nahm sie am Münchner Rätekongress teil — das aktive und passive Wahlrecht für Frauen war durchgesetzt — und kandidierte bei der Wahl zur ersten Nationalversammlung der Weimarer Republik als Parteilose für die USPD, allerdings ohne Erfolg. Der Mord an Kurt Eisner im Februar 1919 und das Erstarken der militärischen und faschistischen Bewegungen zerstörte auch für die Frauenbewegung viele Hoffnungen.

Im Januar desselben Jahres begründete sie zusammen mit Anita Augspurg die pazifistisch-feministische Zeitschrift DIE FRAU IM STAAT, in der sie für Völkerverständigung und den Frieden warben und gegen den „geistlosen und militärisch-technisierten Männerstaat“ schrieben.

Lida G. Heymann war bei der Gründung der WILPF eine herausragende Persönlichkeit. Auf dem Kongress in Zürich wurde sie zur Vizepräsidentin gewählt (1919-1924) und von 1924 bis zu ihrem Tod blieb sie Ehren-Vizepräsidentin.

Beide Frauen engagierten sich nicht nur für die Politik, sondern vernachlässigten auch ihre privaten Lebensbereiche nicht; sie interessierten sich für Kunst und Literatur, unternahmen Berg- und Reittouren, bewirtschafteten jahrelang in den Sommermonaten ihren Bauernhof in Oberbayern; die Winter gehörten mehr der politischen Arbeit und dem Leben in der Stadt. Beide waren sehr reisefreudig und erwarben 1928 im Alter von 71 bzw. 60 Jahren den Führerschein.

Von ihrer Winterreise durch einige Mittelmeerländer vom 22. Januar bis April 1933 konnten Augspurg und Heymann nicht mehr in ihre Münchner Wohnung zurückkehren. Ihre Namen standen seit 1923 bei den Nationalsozialisten auf der Liste der zu liquidierenden Personen. Von ihrem Besitz blieben ihnen nur der Inhalt von vier Reisetaschen; aller anderer Besitz verfiel der Konfiszierung durch die Nationalsozialisten. Der schmerzlichste Verlust, schreibt Heymann in ihren Memoiren, war der Verlust des gesamten Materials der Frauenbewegung und der umfangreichen Bibliothek mit Goetheausgaben von 1832 und 1932. Obwohl sie im Züricher Exil den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlebte, strahlen ihre in Zusammenarbeit mit Augspurg 1941 geschriebenen Memoiren Erlebtes — Erschautes[1] Optimismus aus. Beide hofften, dass vor allem Frauen eines Tages die humane Gesellschaft schaffen würden. Beide Frauen aber litten an ihrem Lebensende auch sehr unter ihrer erzwungenen Untätigkeit: „Sinn und Ziel unseres Lebens war: für Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit in voller Öffentlichkeit zu wirken. Die Basis war verloren! Häufig überkam uns die Empfindung, als hätten wir uns selbst überlebt, als wären wir lebend gestorben. … Dieser Zustand wirkte sich von Jahr zu Jahr trostloser aus. Arbeits- und Betätigungsmöglichkeiten wurden geringer, 1939 und 1940 fast aussichtslos. Das vegetierende Dämmerdasein und das Erleben des Niedergangs aller Menschenwürde waren das Härteste unserer Verbannung; es steigerte sich zur Unerträglichkeit.“[2]

Lida Gustava Heymann starb im Juli 1943, fünf Monate vor der zehn Jahre älteren Anita Augspurg im Exil in Zürich — nach einer „durch nichts jemals getrübten 40 jährigen beglückenden Freundschaft“ (Heymann).

In mehreren Städten sind Straßen nach dieser bedeutenden Frauenrechtlerin benannt. 1993 wurde am 50. Todestag von Anita Augspurg eine Gedenktafel für die beiden radikalen Pazifistinnen in Zürich enthüllt. Im Juli 2009 wurde Lida G. Heymann auch mit einer Gedenktafel in Hamburg (Europapassage) geehrt.

[1]      Durch die Neuausgabe der Heymann-Memoiren durch Margrit Twellmann 1992 sind Heymann und Augspurg  mehr als andere Pazifistinnen neu ins Bewußtsein gerückt.

[2]      Heymann: Erlebtes — Erschautes, S.317