Helene Stöcker, von Brigitte Schuchard in Frauen.Freiheit.Frieden ISBN 978-3-86386-841-3
(13. November 1869 — 24. Februar 1943)[1]

Helene Stöcker stammte aus einer Wuppertaler Kaufmannsfamilie und erhielt innerhalb der Familie eine betont religiöse Er­ziehung, gleichzeitig aber eine für die Zeit herausragende Schulbildung in der Städtischen Höheren Mädchenschule in Elberfeld bei Düsseldorf. Dort erfuhren die Stöcker-Mädchen eine wesentlich vielfältigere Bil­dung als in den Höheren Töchterschulen, in denen ausschließlich auf den „Beruf“ der Ehefrau vorbereitet werden sollte. Direktor Richard Schornstein forderte die Gleichstellung des Mädchenschulwesens mit dem der Jungen. Mit 17 Jahren las Helene Stöcker mit ihrer Freundin Bertha von Suttners Die Waffen nieder, was ihre Einstellung zu Krieg und Frieden entscheidend prägte.

1892 floh sie aus der Enge des Elternhauses nach Berlin. Nach einer Ausbildung zur Lehrerin, studierte sie ab 1896 als eine der ersten Gasthörerinnen (zum Vollstudium waren Frauen in Deutschland noch nicht zugelassen) an der Universität Berlin Literaturgeschichte, Philosophie und Nationalökonomie, promovierte in Bern und wurde danach Dozentin an der Lessing-Hochschule in Berlin. Dort stieß sie auf Minna Cauer und die bürgerliche Frauenbewegung und schloss sich dem radikalen Flügel an. Sie war 1892 mit Bertha von Suttner Mitgründerin der Deutschen Friedensgesellschaft, in deren Präsidium sie 1919 berufen wurde. Sie war auch Vorstandsmitglied in dem von ihr 1898 mit Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann ­gegründeten Verband fortschrittlicher Frauenvereine als Gegen­gewicht zu dem von Helene Lange dominierten Bund Deutscher Frauenvereine. Sie schrieb für Minna Cauers Magazin Die Frauenbewegung und für Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft. 1902 beteiligte sie sich an der Gründung des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht.

Helene Stöcker war auch unter den 28 Frauen aus Deutschland, denen es 1915 während des Krieges gelungen war, nach Den Haag zu kommen, um am Internationalen Frauen-Kongress teilzunehmen. Die ent­schei­dende Voraussetzung für einen positiven Frieden sah sie in der Verweige­rung jeglichen Dienstes am Kriege. Sie arbeitete mit im Frauenausschuss für einen dauernden Frieden und in der Zentralstelle Völkerrecht (seit 1916 Ersatzorganisation für die stark eingeschränkte DFG).

Als Mitgründerin (1905) und Vorsitzende des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform gab sie die Zeitschrift Mutterschutz/Neue Generation heraus, in der sie sich radikal für die Rechtsgleichheit von Mann und Frau und für die sexuelle Emanzipation der Frauen einsetzte.

Für ihre engagierte Arbeit erhielt sie Anerkennung, war aber als Persönlichkeit umstritten. Ihre Vorstellung einer Neuen Ethik sollte eine mögliche Grund­lage sein für ein gleichberechtigtes Miteinander von Frauen und Männern. Von den Vertreterinnen der konservativ-bürgerlichen Frauenvereine erfuhr sie deshalb heftigste Anfeindungen, weil diese darin die Gefahr des sittlichen Verfalls von Familie und Gesellschaft sahen. Respektiert und unterstützt wurde sie von Sexualreformern und vielen Pazifistinnen wie z. B. Auguste Kirchhoff wegen ihres Mutes zu radikalen Forderungen wie z. B. zur Freigabe der Abtreibung, für Gleichstellung „unehelich“ und „ehelich“ geborener Kinder, für breite Sexualaufklärung, für Beseitigung des § 218, für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Sie sprach als erste in der alten Frauenbewegung öffentlich darüber, dass zur Frauenemanzipation auch die erotische, sexuelle Befreiung gehöre.

In den 1920er Jahren reiste sie auch in die Sowjetunion und war mit der Sozialistin Clara Zetkin befreundet. Sie gründete 1921 die Internationale der Kriegsdienstgegner, war im Präsidium der DFG, war Vizepräsidentin des Deutschen Friedenskartells, Delegierte im Internationalen Friedensbüro und im Präsidium der Deutschen Liga für den Völkerbund. Sie nahm an allen Welt-Friedens-Konferenzen teil. Fast dreißig Jahre lang, bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, gab sie die Zeitschrift Neue Generation heraus, in der sie Weg und Ziel für ihr pazifistisches Engagement benannte: Das ist es, was wir brauchen: diese Einheit von politischer Überzeugung und Leben, die Einheit von Politik und Moral.

Ihr selbst war es nicht vergönnt, in ihren zwei wichtigsten Beziehungen, zuerst mit Alexander Tille, später mit Bruno Springer, nach ihren Vorstellungen vom gleichberechtigten Umgang zwischen den Geschlechtern zu leben.

Kurz nach Hitlers Machtübernahme war sie zur Emigration gezwungen. Über die Tschechoslowakei erreichte sie die Schweiz, wo sie bis 1938 ihre pazifistische Arbeit fortsetzte. Nach Aufenthalten in London und Stockholm flüchtete sie 1941 in die USA. Ihre jüngere Schwester Hulda, die mit ihrem Mann nach La Plata emigriert war, die Quäker und die IFFF hatten Helene Stöcker während der letzten Jahre ihres Lebens auf der Flucht und in der Emigration finanziell unterstützt. Am 24. Februar 1943 starb die große Pazifistin und Sexualreformerin verarmt im New Yorker Exil. Das Manuskript ihrer Autobiographie war das einzige, was ihr bei der Ankunft in den USA von ihrem Leben in Europa geblieben war. Es wird wie andere wichtige Quellen der internationalen Friedensbewegung im Swarthmore College, einem Quäkerarchiv, aufbewahrt.

[1]      nach Christl Wickert: Helene Stöcker, … Eine Biographie. Bonn 1990; Heymann, S. 102, 104, 167