Gertrud Baer geschrieben von Brigitte Schuchard, aus dem Buch Frauen.Freiheit.Frieden

Geboren am 25. November 1890 in Hamburg wuchs sie in einer jüdischen, großbürgerlichen Bankiersfamilie auf. Ihre Mutter, die aus England stammte, gehörte als „Suffragette“ dem radikalen Flügel der deutschen Frauenbewegung an und forderte das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen, musste aber in einer unglücklichen Ehe ihre frauenpolitischen Aktivitäten weitgehend aufgeben.

Sie hatte aber die erst 15jährige Tochter in Veranstaltungen zu Frauenstimmrecht und Frauenrecht mitgenommen und beide engagierten sich in der Frauenstimmrechtsbewegung.

Abgeschreckt vom Schicksal der Mutter wollte die Tochter sehr früh unabhängig werden. Von den fünf Kindern, vier Mädchen und ein Knabe, studierte nur Gertruds Bruder, worum sie ihn beneidete; sie wollte keinen Haushalt und auf keinen Fall das Leben einer abhängigen Ehefrau führen, deshalb absolvierte sie, wie zu jener Zeit für intelligente Mädchen die einzige Möglichkeit zu höherer Bildung, das Lehrerinnen-Seminar. Auf einer verbotenen Frauenversammlung lernte sie Lida G. Heymann kennen. Von da an blieb ein enger Kontakt mit Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann erhalten. Gertrud Baer betrachtete die wohl einflussreichsten Frauen der radikalen Frauenbewegung als ihre „geistigen Mentoren“. Sehr bewußt entschied und begeisterte sich Gertrud Baer für die politische Frauenstimmrechtsbewegung; die mehr auf soziale Unterstützung ausgerichtete deutsche Frauenbewegung brachte nicht die völlige Gleichberechtigung der Frau. Sie leistete durchaus jahrelang soziale Arbeit in Heymanns Frauenzentrum in der Paulstraße in Hamburg und arbeitete als deren Sekretärin. Daneben unterrichtete sie — nach eigener Aussage sehr widerwillig — von 1910-1919 an Lyzeen in Hamburg, Leipzig und München. Während des Ersten Weltkrieges folgte sie Heymann nach München, um dort gegen den Krieg zu agitieren. Sie gehörte zu den deutschen Teilnehmerinnen am ersten Internationalen Frauen-Friedenskongress 1915 in Den Haag, war Gründungsmitglied des Deutschen Frauenausschusses für dauernden Frieden und organisierte in ganz Deutschland dazugehörige Ortsgruppen. In der kurzen Zeit der Münchner Räterepublik arbeitete sie besonders eng mit Augspurg, Heymann, Constanze Hallgarten und anderen politisch denkenden Frauen zusammen, um ihre Interessen direkt in die Regierungsarbeit einzubringen. Sie leitete wenige Monate in dieser politischen Übergangsphase bis zur Ausrufung der Räterepublik am 7. April 1919 im Bayerischen Ministerium für soziale Fürsorge das Referat für Frauenrecht. Nur acht Frauen der 256 Mitglieder (3,1%), darunter Anita Augspurg, Luise Kiesselbach und Rosa Kempf, arbeiteten mit im Notparlament. Gertrud Baer organisierte den Wahlkampf für Anita Augspurg, die für den Bayerischen Landtag kandidierte, und für Heymann, die sich neben Kurt Eisner für die bayerische USPD für die deutsche Nationalversammlung aufstellen ließ. Im Chaos der zusammenbrechenden Räterepublik blieben diese konkreten politischen Ziele, die neu gewonnenen Frauenrechte gesetzlich zu verankern, erfolglos. Umso entschlossener widmete Gertrud Baer nun ihre gesamte Zeit und Energie dem Kampf um Frieden und die volle Gleichberechtigung der Frau auf außerparlamentarischer und internationaler Ebene. Um ihren Aufgaben gewachsen zu sein, studierte sie im Laufe ihres Lebens an deutschen, schweizerischen und amerikanischen Universitäten politische Ökonomie, Völkerrecht, Musik und Sprachen. Die Liga wurde, wie Susanne Hertrampf129 schreibt, Gertrud Baers Heimat. Die Völkerrechts-und Friedensaktivistin der frühen Stunde und Mitstreiterin von Heymann, Augspurg

und Helene Stöcker stieg als Jüngste im Führungskreis schnell in Leitungspositionen auf. 1919 übernahm sie (bis 1933) die Leitung des Zentralbüros der deutschen Liga-Sektion, das bis 1923 in München war, dann bis 1933 in Berlin. Gleichzeitig erhielt sie 1919, da sie mit 29 Jahren eine der jüngeren Frauen war, die Stelle der Jugendreferentin. 1921 war sie Delegierte beim Kongress in Zürich und wurde im gleichen Jahr in den Internationalen Vorstand berufen — eine Position, die sie bis 1968 ununterbrochen behielt. Zwischen 1929 und 1946 war sie gleichberechtigt neben der Schweizerin Clara Ragaz und der Britin Kathleen Innes im Präsidium der WILPF und in der gleichen Zeit für die WILPF Joint Chairman und Konsulatin beim Völkerbund in Genf. Sie hoffte ganz besonders, dass mit Gründung des Völkerbundes die Konflikte zwischen den Staaten tatsächlich mit gewaltfreien statt militärischen Methoden gelöst würden — ihre Hoffnungen freilich erfüllten sich nicht.

Gertrud Baer reiste in den frühen 20ern wiederholt mit Frida Perlen aus Stuttgart nach Frankreich, um für die deutsch-fanzösische Annäherung zu wirken. Sie organisierte für die bis zur Trostlosigeit zerstörte Landschaft im Norden Frankreichs finanzielle Mittel für die Aufforstung und direkte Baumspenden. Sie unternahm von 1921 bis 1928 viele Vortragsreisen — auch in den Osten und die Vereinigten Staaten — und veröffentlichte zahlreiche Beiträge in der von Augspurg und Heymann herausgegebenen Zeitschrift Die Frau im Staat und gab selbst Pax et Libertas heraus. Seit 1927 war sie als Vertreterin der Frauenliga Vizepräsidentin des Deutschen Friedenskartells, der Zusammenfassung sämtlicher pazifistischer Verbände Deutschlands.

1933 — als Jüdin und Friedensaktivistin von Deutschland ausgebürgert und besonders gefährdet — emigrierte sie in die Schweiz, wo sich schon Augspurg und Heymann angesiedelt hatten. Ihr Leben und die politische Arbeit wurden zunehmend schwieriger und gefährlicher; ihre vielen Gesprächsversuche, Regierungsvertreter beim Völkerbund auf die Gefahr hinzuweisen, die von einem sich aufrüstenden, faschistischen Deutschland für Europa und die Welt ausgingen, blieben ohne Erfolg. Infolge der Auflösung der deutschen IFFF hatte sie ihre Arbeitsstelle als Sekretärin des deutschen Zweigs verloren; vergeblich bemühte sie sich, beim Genfer Hochkommissariat der UN für die Flüchtlinge aus Deutschland eine andere Stelle zu finden.

Im Juni 1940 gab sie ihr Domizil in Genf auf und ging ins amerikanische Exil, wo sie die amerikanische Staatsangehörigkeit erhielt. Ihr ist zu danken, wichtige Liga-Unterlagen in die USA in Sicherheit mitgenommen zu haben. Sie organisierte von den USA aus die Emigrantenhilfe der WILPF, hielt durch internationale Korrespondenzen den Kontakt zwischen den vertriebenen und den in ihren Ländern gebliebenen Ligafrauen über den Krieg hinweg aufrecht, war ab 1944 als Vertreterin der Internationalen Liga für Menschenrechte bei der UN-Menschenrechtskommission in Genf.

Nach dem Krieg kehrte sie nicht mehr nach Deutschland zurück, sondern übersiedelte 1950 von New York wieder zurück nach Genf, wo auch die Vereinten Nationen ihren Sitz hatten.

Sie fühlte sich mehr der Schweizer Delegation zugehörig. Hier widmete sie sich diversen internationalen Aufgaben: Sie war Vorstandsmitglied von 1946-1968, wurde im Mai 1947 zur Vertreterin der Frauenliga bei den UN ernannt und blieb bis April 1973 für die Liga die wichtigste Repräsentantin im internationalen Beziehungsgeflecht der UN. Sie konnte in dieser Position erheblichen Einfluss auf die Liga-Politik ausüben. Außerdem vertrat sie als Vertreterin der New Yorker Sektion die Internationalen Liga für Menschenrechte bei der UN-Menschenrechtskommission.

1950-1955 trug sie die Hauptverantwortung für das Genfer Büro und war verantwortlich für die Herausgabe der WILPFZeitschrift Pax et Libertas. Zusätzlich arbeitete sie am Lexikon der Frau mit. Im Mittelpunkt ihres politischen Lebens stand zuerst der Kampf um das Frauenstimmrecht, später dann die politische Schulung und die wirkliche Gleichberechtigung der Frauen. Immer wieder arbeitete sie bis zur totalen Erschöpfung und suchte dann Erholung in der Klinik von Dr. Bircher-Benner, der sie sehr schätzte. Sehr schwierig wurde ihr „Liga-Leben“ im Alter; für sie hatte es kein Leben ausserhalb der Liga gegeben. Weder sie noch die WILPF, deren Überleben über die Kriegsjahre vor allem ihr zu verdanken war, hatten für eine Alterssicherung gesorgt. Sie konnte sich deshalb kaum von ihren Ämtern trennen und fühlte sich in erster Linie den Frauen und der Liga aus den 20ern und 30ern verbunden, von den jüngeren Liga-Frauen in ihrer langjährigen Arbeit nicht ausreichend anerkannt und verstanden. Ihre diffusen Ängste, das Trauma der Verfolgung und Vertreibung, verstärkten sich im Alter, wodurch sich die Zusammenarbeit mit anderen, vor allem der „nächsten Liga-Generation“, oft schwierig gestaltete.

Nur unter Druck gab sie 1968 die Mitgliedschaft im internationalen Vorstand ab, behielt aber einen Sonderstatus, dass sie an allen Vorstandssitzungen teilnehmen konnte. Sie starb 1981 in Genf.